Das Gunniversum lebt
Mehr als Vierzig Jahre schlug ihr Herz für den Tanz. Jetzt ist es für immer stumm. Die Gründerin und Big Mamma des Tanzstudio P70 lebt nicht mehr. Im Alter von 72 Jahren erlag sie einer schweren Krankheit. Im Kreise ihrer engsten Familienangehörigen schloss sie am 14. Juni 2021 für immer die Augen. Mit Dankbarkeit und Traurigkeit blicken wir auf ein ereignisreiches und erfülltes Leben zurück.
Im Zentrum dieses Gunniversum stand immer die Idee einer tanzenden Großfamilie. Als Jenaer Stadtgewächs traf Gunni in den sechziger Jahren, bei Schott, einen schmucken Jungen, der sich als Conny vorstellte. Der Mann mit dem schnittigen Feuerstuhl hatte seinerseits mehr als ein Auge auf die wunderschöne Frau, mit dem Herz am rechten Fleck und dem tiefen Dekolletee, geworfen. Beide feierten im Jahr 2019 ihre goldene Hochzeit. Obwohl Conny, in dessen Ausweis der Vorname Wolfgang steht, selbst nur über ein unterentwickeltes „Tanzbein“ verfügt und sein Interesse eher der Technik mit Verbrennungsmotor gilt, drehte sich in seinem Leben fortan alles um das Thema Tanzen. Die Familie wurde schnell größer. Neben den beiden eigenen Kindern, Steffen und Susi, zog Gunni auch ihren jüngeren Bruder Buschi auf. Womöglich war das Tanzen eine Art Ventil, durch das ihre übersprudelnde Energie entweiche konnte, für die temperamentvolle Frau. Da sie im Jena der Siebziger Jahre keine geeigneten Raum für die tänzerische Freizeitgestaltung ihrer Kinder fand, gründete sie in deren Schule kurzerhand eine eigene Truppe. Mit ihrer Gabe die Menschen um sie herum zu begeistern und ihrer mütterlichen Fürsorge für die ihr anvertrauten Kinder, hatte sie bald eine ansehnliche Truppe um sich herum geschart. Durch das Haus der altehrwürdigen Unreinschule schallten fortan die Schlager der DDR-Zeit, denn die moderne Musik hatte es der ausgebildeten Tanzpädagogin angetan. Aus den Kindern wurden Teenager, die bald dem Schulalter entwachsen waren. Mit dem VEB (Volkseigener Betrieb) Jenapharm fand Gunni Fichtner bald einen neuen Unterstützer für ihr Tanzprojekt. Als Schlagertanzgruppe trainierte man in dieser Zeit im betriebseigenen Kulturhaus in der Oberaue. Als Oberhaupt der Familie hielt sie die Zügel straff in der Hand und sorgte so für den Zusammenhalt der pubertierenden Truppe. Bald wurde man Opfer der Überregulierung in der SED-Bürokratie. Eine der beiden Schlagertanzgruppen der Stadt Jena musste sich umbenennen. Man ersann den Namen Tanzstudio P70. Die erste „Rennpappe“ aus der DDR-Automobilindustrie mit dem kryptischen Namen „IFA AWZ P 70 Zwickau“ stand dafür Pate. Dieser fahrbare Untersatz war ein treuer Begleiter zu allen Auftritten der Truppe. Anfang der 80er Jahre eröffnete sich für die Tanzgruppe mit dem Karneval ein neues Betätigungsfeld. Gunni hatte im Hintergrund die Strippen gezogen und Kontakte zum LNT (Karnevalsverein Lustiges, närrisches Treiben) geknüpft. In den kommenden 15 Jahren stellte das Tanzstudio P70 die Funkengarde des Techniker Faschings. Rüdiger Grunow, ein Wegbegleiter von damals, schildert in seiner Publikation: „Der Jenaer Karneval“ wie schwer oft Gunnis Temperament zu zügeln war. Wenn ein Mikro falsch eingestellt die Musik zu leise war oder beim Kostümwechsel getrödelt wurde, konnte sie schon mal sehr laut werden. Auch wenn der eine oder die andere sich von ihr vor den Kopf gestoßen fühlte und sich beleidigt abwendete, wenn manchmal mit Gunni die Pferde durchgingen, war sie doch ein liebenswürdiger Mensch mit Organisatorischem Talent und Psychologischem Feingefühl ausgestattet. Aber vor allen Dingen war sie ein Macher. In vielen Nachtschichten entstanden an der eigenen Nähmaschine die farbenprächtigen Kostüme, die zum einem Markenzeichen der Tanztruppe wurden. Manchmal stellte sie sich in die Küche und bekochte die ganze Gruppe. Im Gunniversum gab es keinen Stillstand. Jeder neue Kontakt konnte Türen öffnen, die wichtig für die Weiterentwicklung ihres Projektes waren. Zu den zahlreichen beeindruckenden Fähigkeiten der Organisatorin Gunni Fichtner zählte ihr Talent, Jungs für das Tanzen zu begeistern und auch als Männer an den Verein zu binden. Neben Training und Tanzparkett gab es immer wieder gemeinsame Freizeitaktivitäten mit Reisen, Abenteuer und Lagerfeueratmosphäre. Die Unbequeme bekam in der Ära das übermächtigen „General“ Biermann, den Zorn der Machthaber zu spüren. Als Leiterin des Kulturhauses in Steudnitz zog sie mit der Truppe in das „Exil“ nach Dornburg. Mit dem Rosen- und dem Brückenfest, stehen noch heute zwei wichtige Veranstaltungen von damals, im Auftrittskalender des Tanzstudios. Auch nach dem Ende der DDR suchte sie immer wieder Kontakt zu den politischen Entscheidungsträgern. Mit den ehemaligen Oberbürgermeistern der Stadt Jena, Peter Röhlinger und Albrecht Schröter pflegte sie ebenso ein freundschaftliches Verhältnis, wie mit dem Bundestagsabgeordneten und Ortsteilbürgermeister von Neu-Lobeda Volker Blumentritt. Tanzstudio bedeutet auch ein Raum zum Trainieren und Feiern für den Verein. Im Kulturhaus Ringwiese und dem neu gebauten WIN-Center im Süden von Jena, fand man in den Neunzigerjahren ein neues Domizil. Zurück zu den Wurzeln bedeutete auch zurück zum Karneval. Als Rettungsversuch für das vom Abriss bedrohte Klubhaus Ringwiese, wurde unter maßgeblicher Beteiligung von Gunni, der Karnevalsverein Ringwiese gegründet. In Allianz mit den anderen Faschingsvereinen der Stadt wurde die Jenaer Karnevalsgala gegründet. Auf der größten Bühne der Stadt wurde einmal im Jahr ein anspruchsvolles Galaprogramm gemeinsam gestaltet. Dieses Highlight für ihre Tänzerinnen und Tänzer zu erhalten, wurde zu Gunnis Herzensangelegenheit. Verzweifelt versuchte sie zusammenzuhalten, was nicht mehr zusammenzuhalten war. Längst war das Haus, mit der kleinen Tankstelle und der Kfz-Werkstatt im Hinterhof, zum neuen Tanzstudio und der neuen Heimstädte des KVR geworden. In der Karl-Liebknecht-Straße 34 in Jena wurde so manche tolle Party gefeiert. Gern erinnern wir uns an den wuchtigen Polstersessel mit dem kleinen Couchtisch, von dem aus das Gunniversum dirigiert wurde. Neben der Tageszeitung und den Handys lagen dort immer Pläne, Karten, Listen und etwas zu naschen. Längst hatte Gunni die künstlerischen Belange der Tanzgruppe in die Händen ihrer Tochter Susi gelegt. Mittlerweile hatte sie das Rentenalter erreicht und ihre Gesundheit war angegriffen. Den Vorsatz kürzer zu treten oder sich zurück zu ziehen, warf sie immer wieder nach kurzer Zeit über Bord. Beeindruckend war mit welchem Ehrgeiz sie sich die digitalen Medien zu eigen gemacht hat. PC und Smartphone gehörten zu ihren Arbeitsmitteln, die sozialen Netzwerke begriff Sie als eine fantastische Werbe- und Kommunikationsplattform. Gunni beteiligte sich aktiv an der Gestaltung des Internetangebotes ihrer Projekte. Aber auch abseits des Internet war die geborene Managerin hervorragend vernetzt. Mit ihrer unnachahmlichen Art schaffte sie es immer wieder, Menschen dazu zu bewegen, ihr statt dem kleinen Finger, die ganze Hand zu geben. Sie integrierte immer wieder Kinder und deren Eltern in den „Familienbetrieb“. Wen sie in ihr Herz geschlossen hatte, den unterstützte sie mit allen ihren Möglichkeiten. Bei aller Dominanz und der auf Außenstehende oft befremdlich wirkender Zielstrebigkeit, ging es ihr nie um sich selbst, sondern immer um ihre Herzenssachen. Gunnis Mann stand in den vielen Jahren treu an ihrer Seite, machte den ganzen Zirkus nicht nur mit, sondern unterstützte als Handwerker, Kraftfahrer, Bühnendarsteller und Opa wo er nur konnte. Auf dem Bauernhof in der Nähe von Camburg fand die Rastlose, im Kreise der Großfamilie, ihren Ruhepol. Mit dem Abriss des Hauses in der Karli34 verlor das Tanzstudio abermals sein Obdach. In der Corona Krise 2020 wurde die Kultur auch in Jena eingefroren. Das alles ging nicht spurlos an der tapferen Frau vorbei. Sie kämpfte weiter für ihr Tanzstudio und leider erfolglos gegen den Krebs. Ich bin mir sicher, dort wo Gunni heute ist, wird sie wieder Visionen entwickeln, Allianzen schmieden und mit Verbündeten eigene Projekte starten, damit sich das Gunniversum immer weiterdreht.